Dieser Text ist schon ca. 12 Jahre alt, gilt aber nach wie vor. Er ist einer von mehreren unveröffentlichten Texten, die bei Kai noch in der Schublade liegen, und die er hier nach und nach veröffentlichen wird.
Gegen das Reisen mit der Bahn zu hetzen, scheint so etwas wie ein Volkssport geworden zu sein. Früher waren die Kritiker hauptsächlich unter jenen zu finden, die ohnehin nicht mit der Bahn fuhren, sondern das Auto als Reisemittel bevorzugten. Jene strickten damals schon vehement an der Mär, dass Bahn fahren viel teurer sei als eine Fahrt mit dem Auto und dass man mit dem Auto viel schneller sein Ziel erreiche. Nun, das Argument des Preises ist so offenkundig falsch und mit einer solchen Leichtigkeit zu widerlegen, dass es einem Schulkind in der dritten Klasse nur so eine Wonne wäre. Beispielsweise muss man die Bahn weder kaufen noch leasen, um mit ihr zu fahren, aber das nur am Rande. Erstaunlich ist aber der Umstand, dass es trotz eindeutiger Zahlen und Fakten einfach nicht möglich zu sein scheint, überzeugte Autofahrer von der ökonomischen Ineffizienz ihres Treibens zu überzeugen. Wie häufig habe ich den faden Satz gehört: „Ja, aber das Auto brauche ich ja sowieso.“ Meistens wird dieser Satz begleitet von einem völlig unangemessen triumphalen Lächeln, als hätte mein Gegenüber mir soeben mit geschickt geführter Klinge den todbringenden Stoß versetzt. Eine schlüssige Antwort auf meine anschließende Frage, wofür er denn ein Auto brauche habe ich bis dato noch nicht gehört, sondern wurde anstelle einer angemessenen Replik als Müsli oder Öko bezichtigt. (Was für eine überaus drollige Vorstellung, einer Schale mit Haferflocken, Nüssen und Rosinen gegenüberzusitzen und zu streiten.) Da mich das aber nicht weiterbrachte, habe ich mir selber überlegt, wofür man denn wohl ein Auto braucht und mir sind tatsächlich ein paar mögliche Antworten eingefallen, die ich den Lesern an dieser Stelle nicht vorenthalten möchte. Vielleicht ist ja was dabei.
Eine denkbare Begründung wäre wohl diese: Zu Fuß oder mit dem Fahrrad kann man ja nicht einkaufen, also zumindest keine Geld sparenden, präapokalytischen Hamsterkäufe beim Billigdiscounter tätigen. Ohne die Anschaffung eines Autos wäre zwar genug Geld über, um darauf zu verzichten und stattdessen auf einem Wochenmarkt, im Bio- oder Weltladen oder Ähnlichem einzukaufen und schmackhaft statt sparsam zu speisen, aber mit solchen Argumenten landet man schnell in den Reihen der Besserwisser, denen kein Mensch glauben schenken mag, nicht einmal dann, wenn sie die unumstößliche Wahrheit sprechen. Jedoch kann es von Vorteil sein, als Besserwisser abgestempelt zu werden, denn schließlich erwarten die Gegenüber, dass man offenkundige Wahrheiten formuliert, wie zum Beispiel diese: Sich ein Auto zu kaufen, um bei Aldi, Lidl, Plus oder was weiß denn ich wo einzukaufen spart kein Geld! Selbst wenn ein Salatkopf bei Aldi 40 Cent weniger kostet als auf dem Wochenmarkt (wobei der Aldi-Salatkopf mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr wenig bis gar keinen Geschmack haben dürfte – die oft beschrieene Qualitätskontrolle der Aldi-Häscher sorgt nur dafür, dass das Grünzeug auf der Fahrt nach Hause nicht vorschnell welkt), so müsste ich selbst als Fahrer eines vergleichsweise günstigen Wagens 25000 Salatköpfe kaufen, um die Unkosten wieder einzuspielen. Da trotz Qualitätskontrolle die Haltbarkeit des Billigsalats begrenzt ist, muss man die 25000 Köpfe über einen längeren Zeitraum hinweg separat erwerben, also vielleicht einen pro Woche, oder so. Fünfhundert Jahre später hat man das Fahrzeug dann finanziert. „Das ist ja völlig überspitzt dargestellt“, ruft da empört die Autofahrerlobby. „Wir sparen jede Woche locker 5 Euro beim Einkaufen.“ Das ist selbstverständlich ein vortrefflicher Hinweis, denn so dauert es nur grob vierzig Jahre, bis wir den Kaufpreis für das Kraftfahrzeug bei den Discountern zurückerstattet bekommen haben. Nur halten viele Autos gar nicht erst so lange. Zudem dürften auch die zu Krawall neigenden Leser bemerkt haben, dass ich auf Betriebskosten, welche bei einem Auto ganz erheblichen Ausmaßes sind, in der Kalkulation gänzlich verzichtet habe.
Vielleicht wäre es doch sparsamer, das Geld nicht einem Autokonzern in den Rachen zu werfen, sondern zu leicht erhöhten Preisen bei Tante Emma um die Ecke einzukaufen. Die Emma freut sich und muss nicht tagein tagaus mit trüben Gedanken in ihrer Sozialwohnung sitzen und braune Volksverhetzer wählen, die ihr lüstern erklären, an ihrer Misere seien Ausländer schuld.
Zufällig habe ich im letzten Satz eine Überleitung zur zweiten denkbaren Begründung gefunden. Wenn man nur bedenkt, wie viele Zwangsarbeiter ihre Gesundheit oder gar ihr Leben beim Bau der Autobahnen ließen, so ist es unsere gottverdammte moralische Pflicht, mit unseren Wagen auf diesen Straßen herumzufahren, um das Andenken an die Naziopfer zu wahren und nicht durch Bahnfahrten leichtfertig zu beschmutzen. Dritter Grund ist natürlich die Freiheit. Nur mit einem Auto ist man ja wirklich frei (von ökologischer Verantwortung, Verstand, Sachzwängen, Gewissen, Moral). Hier dürfen natürlich die gelben Engel nicht fehlen, die pausenlos ihr dummdreistes „freie Fahrt für freie Bürger“ in die Welt posaunen. Zum Wohle nachfolgender Generationen sollte man diesen Club der törichten Mobilitätsapostel verbieten, oder zumindest die führenden Funktionäre gemeinsam mit den ebenso geist- wie ruchlosen Autoren der Auto-Bild und anderer solcher Blätter, auf Feuerland entsorgen.
Eigentlich war es ja gar nicht mein Thema, mich über das Auto zu erregen. Komisch, da habe ich mich wohl verfahren. Aber kein Problem: geschwind zu einem Bahnhof geeilt und in den nächsten Zug gehüpft, der mich schnell irgendwo hinbringt. Denn Schnelligkeit ist ja der Autonarren zweitliebstes Argument. Da mosern sie dann herum, dass die Züge immer Verspätung haben, und Umsteigen müsse man auch ständig. Und dann verpasst man den Anschlusszug, weil man ja Verspätung hat usw. Da ich durchaus auch nicht unbeträchtliche Erfahrungen mit dem Lenken eines Personenkraftwagens habe, wundere ich mich immer sehr über diese Argumentationsschiene. Bei längeren Fahrten ist es ja wohl auszuschließen, dass der Zeitpunkt des Fahrtendes vorhersehbar sein könnte, doch scheint die Sensorik eines durchschnittlich begabten Autofahrers dies nicht zu registrieren. Stattdessen plant der clevere Fahrzeuglenker einfach viel mehr Zeit ein, als er eigentlich braucht und, schwuppdiwupp, isser wieder pünktlich. „Quod erat demonstrandum“, pflegte mein Mathematiklehrer immer zu sagen. Dann gibt es Zeiten, zu denen man mit dem Auto gar nicht fahren kann (Ferienbeginn, Freitagnachmittag, Berufsverkehr etc.), weil die vor einem stehenden Autos dies nicht zulassen. Länger dauert es mit der Bahn aber nur, wenn man ein angestrebtes Ziel tatsächlich nicht ohne Umsteigen erreichen kann. Oftmals liegt die Ursache hier in der mangelnden Betriebswirtschaftlichkeit von Strecken, sprich: direkte Verbindungen sind unrentabel, weil da zu wenige Passagiere fahren wollen, denn die fahren ja lieber mit dem Auto. Das nennt man wohl einen Teufelskreis.
Diese unreflektierte Abneigung gegenüber der Bahn trifft man heutzutage erstaunlicherweise auch sehr oft unter den regelmäßig Reisenden. Viele Züge, mit denen ich reise, sind zum Bersten gefüllt mit nölenden Bahnfahrern. Menschen, die es als Zumutung empfinden, dass in Bookholzberg oder Niederndodenleben kein ICE im Halbstundentakt verkehrt, sich zwangsläufig als Opfer der Bahn begreifen und dies auch lauthals pöbelnd auf jeder Zugfahrt verkünden. Ich habe einmal versucht, einem Mitreisenden die irrationalen Aspekte einer solchen Forderung begreiflich zu machen, doch verpufften meine Bemühungen rückstandsfrei.
Zu den unangenehmsten Momenten in der Bahn zählen jene Vorkommnisse, in denen der Zug auf freier Strecke eine sehr starke Bremsung hinlegt und danach eine stark verdatterte Ansprache eines Zugbegleiters, der offenbar unter Schock steht, die Reisenden darüber informiert, dass man aufgrund eines Personenschadens die Reise auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen könne. Da sind sich jedes Mal gleich mehrere Mitreisende nicht zu schade, Dinge wie „Scheiß-Bahn“ und „ist doch immer das Gleiche, immer Verspätung“ in ihre Umwelt zu entlassen. Wie ungehobelt, grobschlächtig und wenig zartfühlend kann man eigentlich sein? „Personenschaden“ ist der Bahncode für einen erfolgreichen Freitod, verübt von einem labilen Exmitbürger auf Kosten der nervlichen Gesundheit eines Zuglenkers. Da kann doch die Bahn nix dafür, oder sollte die Deutsche Bahn AG die Preise verzehnfachen, um an allen gefährdeten Strecken Wachen aufstellen? Nein? Na bitte! Im Übrigen kann man in einer solchen Situation lediglich dem Freitodfinder Zorn entgegen bringen, da es schlicht und ergreifend unhöflich ist, andere Menschen in eine solch intime Geschichte hineinzuziehen. Von ‚Hilfeschrei’ oder so etwas, kann da ja keine Rede mehr sein. Vielleicht ist Zorn ja aber auch in einer solchen Situation gänzlich unangebracht. Stattdessen sollte man lieber in seinem Sessel sitzen bleiben und Mitleid mit dem armen Fahrer des Zuges verspüren, der nun auf einen Ersatzfahrer warten muss, weil er selber den Zug nicht weiter lenken darf. Auch muss mit der Weiterfahrt gewartet werden, bis Polizei und Staatsanwalt sicherstellen können, dass es sich bei dem Freitod auch um einen selbst gewählten handelt und da nicht ein heimtückischer Meuchelmörder nachgeholfen hat. Ich glaube es handelt sich bei einem Personenschaden um einen der wenigen Momente, in denen ich tatsächlich Verständnis mit der Bahn aufbringe und ich habe solche Vorfälle schon viermal miterlebt, ohne dass ich Amok gelaufen bin. Einige Mitreisende hingegen schienen kurz davor zu sein, den uniformierten Überbringer der unvorteilhaften Nachricht zu lynchen, weil sie die erste Halbzeit eines Fußballspiels im Fernsehen nun nicht zu Gesicht bekommen würden.
Apropos Verständnis. Heutzutage wird einem ständig für irgendein Verständnis gedankt, welches man gar nicht geäußert hat. Da wird man beispielsweise jahrzehntelang auf der A1 von Wanderbaustellen zum Stauen genötigt und danach dankt einem irgendein Ministerium für ein Verständnis, welches ich weit von mir weisen möchte. Auch habe ich für viele Zugverspätungen und dämlich konstruierte Fahrpläne keinerlei Verständnis und empfinde es als einen persönlichen Affront, dafür ungefragt Dank ausgesprochen zu bekommen.
Man stelle sich einfach zur Verdeutlichung einmal folgendes vor: Eine junge Frau parkt ihren Wagen auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz. Dann entgurtet sie ihren auf dem Rücksitz schlummernden Nachwuchs, lässt ihn aber noch im Sitz liegen und schlummern, bis sie den Kinderwagen entfaltet und mit einem Lammfell ausgepolstert hat. Behutsam wird der kleine Wurm in die mobile Krippe gebettet und gemeinsam geht es los in Richtung eines Parkscheinautomaten, der in nur 130 Metern Luftlinie dem Geldeinwurf harrt. (Ich verbitte mir an dieser Stelle das Zitieren von Verordnungen, die besagen, dass deutsche Parkscheinautomaten höchsten 80 Meter voneinander entfernt stehen dürfen. Ich weiß nicht, wie weit die Parkerlaubnisspender voneinander getrennt sein dürfen und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht weiter. Nicht ohne Grund habe ich das Jurastudium nach zwei Semestern belustigter Irritation aufgegeben. Abgesehen davon ist der nähere Automat leider in der vorigen Nacht von angeheiterten Missetätern mit Kaugummi außer Gefecht gesetzt worden. Ätsch!) Die junge Mutter stellt nach kurzer Wanderschaft fest, dass ihr kurzfristiges Reiseziel mit ihrer üppigen Kleingeldbevorratung zwecks Parkgebührenentrichtung nicht kooperieren will. Also schiebt sie das erwachende Kleinchen in die nächste Bäckerei, wo es von süßen Düften endgültig aus Schlummerland zurückkehrt. Nach lautstarken Appetitsbekundungen des Zwergs wird rasch ein mit Rosinen bestücktes Milchbrötchen erworben, welches der Zahnlose beginnt, genussvoll in sich hineinzulutschen. In der Hoffnung, dass bei dem erhaltenen Wechselgeld etwas zum Erstehen eines Parkscheins dabei sein könnte geht es schnurstracks zurück zum Kleingeldtresor. Und, siehe da: das Gerät beginnt munter mit dem Ausdruck einer zeitlich befristeten Parkgenehmigung. Diese entnimmt die junge Mutter, die in dieser kleinen Geschichte eine unglaubliche Contenance an den Tag gelegt hat und fährt damit zurück zum Auto. Und dort findet sie unter dem Scheibenwischer einen Schrieb der Stadt auf dem steht: „Sie haben ihr Fahrzeug ohne gültigen Parkschein auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz abgestellt. Dafür wird Ihnen in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten ein Bußgeldbescheid ausgestellt, weil wir hier bei der Stadt alle ganz furchtbar überlastet sind. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Wohl weiß ich, dass die Zettelchen, die deutsche Ordnungshüter unter Scheibenwischern entsorgen, einen anderen Wortlaut tragen. Ich fürchte jedoch, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis aus meiner kleinen Utopie bittere Wahrheit geworden ist.
Dem randvoll mit Verständnis gefüllten, sprichwörtlichen Fass den Boden raus geschlagen (wohl, damit es nicht überläuft) hat neulich allerdings eine humorige Zugbegleiterin in einem Intercity auf der Fahrt von Bremen nach Düsseldorf. Sie sagte folgendes, welches mich zu extremen Heiterkeitsbekundungen in Form von zügellosem Gelächter animierte: „Aufgrund von starkem Reisendenein- und -ausstieg werden wir Bochum mit einer Verspätung von 9 Minuten erreichen. Wir möchten uns dafür entschuldigen und danken für Ihr Verständnis.“ Da wollten doch tatsächlich Reisewillige an jedem Bahnhof ein- oder aussteigen. Das damit bei der Bahn keiner rechnet, dafür kann man eigentlich kein Verständnis haben. Wer hingegen so ulkig formulieren kann, dem bringe ich auch in einer solchen Situation gerne Verständnis entgegen.
Überhaupt häufen sich in den letzten Jahren bemerkenswerte Reiserlebnisse mit der Bahn und ihren Angestellten, die offenbar mittlerweile Hilfsbereitschaftslehrgänge absolvieren müssen. So durfte ich einmal miterleben, wie eine sympathische Zugbegleiterin versuchte, einer des Deutschen und Englischen nicht mächtigen Chinesin zu vermitteln, dass der Zug am nächsten Bahnhof getrennt werde und dass die wenig polyglotte Asiatin im falschen Zugteil säße. Da bekam ich ebenfalls meine hilfsbereite Phase und gemeinsam gelang es uns nach einer Viertelstunde, ihr mit Hilfe einiger Skizzen und inszenierten Gepäckentführungen den Sachverhalt noch rechtzeitig zu erläutern. Sie dankte uns mit einem warmen Lächeln, welches wir erschöpft erwiderten.
Warm ums Herz wurde mir jüngst auf einer Fahrt nach München (sechseinhalb Stunden für 760 Kilometer, verehrte Autofahrer, am helllichten Tag). Da musste ich in Hannover den Zug wechseln und wurde von unserem Zugchef mit folgenden Worten verabschiedet: „Wir wünschen allen aussteigenden Fahrgästen viel Glück und Gesundheit und einen gutgelaunten Tag.“ Den hatte ich dann auch.
PS: Die Rechtschreibkontrolle meiner Textverarbeitung kennt das Wort Sensorik nicht und schlägt mir vor, stattdessen doch einfach Sensorin zu schreiben. Das kenne ich nun wieder nicht und will es daher nicht verwenden. Sobald ich aber zuhause bin muss ich unbedingt herausfinden, was dieses ominöse Wort bedeutet. Vielleicht ein weiblicher Sensor.
PPS: Auf kritischere Töne gegenüber der Bahn habe ich bewusst verzichtet, obgleich es da viel zu murren gibt. Murrwilligen rate ich daher zur Lektüre des „Bahnhasser-Buchs“, welches entgegen möglicher irregeleiteter Annahmen von Bahnfreunden verfasst wurde. Die dort enthaltenen Unmutsäußerungen kann ich zu 90% mittragen.
Titelfoto: pixabay
Autor von „Willkommen im Meer“ und „Krumme Dinger“, Netzmensch und Familienvater aus Oldenburg. Douglas-Adams-Fan. Nach einem schweren Schlaganfall im Mai 2015 Aphasiker auf dem Weg der Besserung.
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