Wilde helle und dunkle Wolkenformationen, dahinter blauer Himmel

Den Wind zu fangen

von Kai-Eric Fitzner (1991)

Die Reise nach Osanda

„Ein müder Baum legt seine Blätter ab. Ihre Last würde ihn von seinem wohlverdienten Schlaf fernhalten. Und so schläft er bis Mutter Sonne ihn erwachen läßt und auf ein Neues kleidet.“

Meister Tamyo räusperte sich, um mit klarer Stimme fortzufahren.

„Die Knospen, die zu Blüten und Blättern werden, vermögen die Vögel zu locken. Und kommt ein Vogel in ihre Nähe, so nehmen sie den Wind aus seinen Federn und er setzt sich zu ihnen. Ein Vogel, dessen Gefieder keinen Wind mehr in sich birgt, wird seßhaft und der Baum ist nicht mehr allein. Doch dann, wenn den Vogel der Tod ereilt,  vermag man Tag und Nacht das Klagen des Baumes zu vernehmen und ein Auserwählter, der mit seinem Herzen lauscht, kann den Wind fangen.“

Ich erinnere mich noch heute mit Wohlbehagen an die Worte meines alten Meisters. Obschon der Hauch des Vergessens mich bisweilen übermäßig streift und ich das Geheimnis des Windes schon seit geraumer Zeit nicht mehr in meinem Gedächtnis trage, so bleibt doch die Erinnerung an Meister Tamyo ungetrübt. Seine grenzenlose Weisheit, deren Verkündungen seinerzeit eher an Märchen erinnerten, welche man respektvoll auf die Essenz ihrer moralischen Phrasen reduziert hat, barg wider Erwarten einiges an Wahrheiten in sich, die wiederum den mühsamen, steinigen Weg des Lebens zu erleichtern vermochten.

Ich freute mich immer, wenn diese Erinnerungen meinen Geist streiften und sehnte mich jedesmal nach der Erkenntnis jener essentieller Details, die mein Gedächtnis so fluchtartig verlassen hatten. Doch je häufiger diese Sehnsucht mein Handeln trübte, desto größer wurde die traurige Gewißheit, daß die Geheimnisse meines Ordens mit Meister Tamyo unter dem ewig schützenden Blätterdach des Sonnenbaumes zu Grabe getragen wurden.

Meine Verwunderung war gering darüber, daß der Platzregen just in diesem Augenblick meine Kleider tränkte, denn immer wenn ich meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen ließ, schien sich die Natur zur Wehr zu setzen, als wollte sie nicht zulassen, daß ihre Geheimnisse erneut einem Sterblichen zukamen. Anerkennend nickte ich der lückenlosen Wolkendecke zu – nicht ohne einen Hauch Unterwürfigkeit, den ich in solchen Augenblicken meiner Mimik und Gestik instinktiv beimischte. Diesem Instinkt hatte ich schon einige Male mein Leben zu verdanken und auch dieses Mal, als es um alles Geringere ging, als um mein Leben, erbrachte diese Höflichkeit den erwünschten Erfolg: der Regen erbarmte sich meiner und unterbrach seinen unbarmherzigen Niederfall. Zunehmend gelangten Strahlen der wärmenden Sonne wieder hernieder und verwandelten die graue, durchnässte Welt um mich herum in ein lieblich duftendes, grünes Szenario. Ich stellte fest, das der Tag schon recht weit fortgeschritten war und beschloß, meinen Weg nach Osanda fortzusetzen.

Gegen Abend – so wußte ich – würde ich auf ein Dorf treffen, wo ich sicherlich ein Nachtlager hätte bekommen können. Doch obgleich ich sogar einige Stunden nach der Dämmerung das Dorf zu finden versuchte, so blieb mein Mühen zunächst erfolglos. Ich setzte mich also auf einen Baumstumpf und blickte verzweifelt in der Nacht umher. Es war eine sehr helle Nacht. Nach dem Gattwick-Kalender war es das vierte Jahrzehnt nach Anbruch des Zeitalters Ochmynorons, des fünften Mondes, der nach Ansicht der Magier Gattwicks der  Mond der Illusionen ist. Es war der fünfte Tag nach Frühjahrsanfang und demzufolge die fünfte Nacht nach einer mittleren Konstellation, wie die Magier Gattwicks das volle Erscheinen von sechs Monden nennen. Und in dieser hellen Frühlingsnacht saß ich auf einem Baumstumpf und hatte ein Dorf verloren. Zumindest glaubte ich das, bis ich plötzlich einen sonderbaren Geruch wahrnahm. Es roch nach verbranntem Fleisch, Menschenfleisch, um genau zu sein, welches den Gestank von verbranntem Fell nicht in dem Maße aufweist, wie Fleisch von Tieren. Da ich vergeblich den Schein eines Feuers suchte wurde mir schnell deutlich, daß ich es nicht mit Antouhli, einer Rasse von menschenfressenden Gnomen, welche diese Gegend des öfteren heimsuchte, zu tun hatte. Man konnte ihnen einiges an Primitivität nachsagen, aber daß auch nur einer von ihnen jemals einen Menschen roh und ungewürzt verspeist hätte, wäre eine völlig neue Erkenntnis. Ich begab mich zur Ruhe mit dem Vorsatz, am nächsten Morgen nach dem wahrscheinlich verstorbenen Urheber des Geruches zu suchen.

Die Suche blieb sodann am nächsten Morgen nicht lange erfolglos. Unweit meiner Lagerstatt fand ich das Dorf und den Grund, warum ich es in der Nacht nicht gefunden hatte:  es stand kein Stein mehr auf dem anderen und verwun-derlicherweise schien mehr als die Hälfte des Baumaterials verschwunden zu sein. Der Anblick der sich mir bot ließ darauf schließen, daß das Dorf gewaltsam zerlegt worden war, denn ich fand alles von zerbrochenen Schränken über zerbeulte Töpfe und Pfannen bis hin zu verbrannten Dächern und verglühten Steinen; nur eines fand ich zunächst nicht: Menschen. Doch aufgrund meiner Wahrnehmung der letzten Nacht wußte ich, daß hier zumindest ein verbrannter Mensch liegen mußte. Als ich ihn dann einige Stunden später fand, hatte ich glücklicherweise schon mit dem Schlimmsten gerechnet, sonst wäre mir speiübel geworden. Er lag in einem der weniger zerstörten Häuser, will sagen, die Grundmauern standen noch. In seiner rechten Hand hielt er ein mächtiges Langschwert – eindeutig eine Arbeit aus der Straße der Schmiede in Osanda – und er war fein säuberlich in der Mitte zerteilt worden. Die Brandspuren ließen eigentlich nur darauf schließen, daß ihn ein Blitz zerteilt hatte und daraufhin wurde ich stutzig und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen, hätte ihn der Blitz getroffen, so hätte dieser das Schwert nicht unberücksichtigt gelassen. Des weiteren war es nicht die Art eines natürlichen Wetterblitzes, einen Menschen in seinem Haus zu überfallen und zum anderen war es auch nicht die Art eines Menschen, sich mit dem Schwerte gegen einen Wetterblitz zu verteidigen. Das Phänomen ließ sich einzig und allein mit Magie erklären und auch das machte mich stutzig. Magier hatte es in diesem Teil der Welt schon seit einigen Jahrtausenden nicht mehr gegeben und wenn hier nun wieder einer aufgetaucht sein sollte, dann hätte man mir in Gattwick davon erzählt. Da mir bewußt war, daß ich sobald keine Lösung zu diesem Problem finden würde, beschloß ich meine Reise nach Osanda fortzusetzen und meinen zukünftigen Auftraggebern, den Drachenreitern von Osanda, von diesen merkwürdigen Ereignissen zu berichten.

Meine Neugier auf diesen ominösen Auftrag war ohnehin schier unerträglich, seit dem Tage als mich die Nachricht der Drachenreiter in Gattwick erreichte. Zunächst war ich verwundert darüber, daß man sich an mich nach achtjähriger Verbannung aus Osanda noch erinnerte, hatte ich doch wirklich wenig gewirkt, als ich mich dort aufhielt. Auch dem Umstand, daß ich dem geistlichen Oberhaupt, dem Hohepriester Thans, zu einer Aufklärung in den Wegen der Natur verholfen hatte – weswegen man mich des Landes verwiesen hatte – ist es wohl kaum zu verdanken, das die Erinnerung an mich dort noch existent war. Der Bote hatte jedoch von äußerster Dringlichkeit gesprochen und davon, daß es niemand Geeigneteren gäbe als mich. Also hatte ich mich auf den Weg gemacht, hatte die Unglaublichen Höhen des Gonraba-Gebirges überwunden, war monatelang über die Hochebene der Tausend Seen gewandert, hatte den Unwirtlichen Wald von Akbana, in dem es von Antouhli, Elfen und Hexen nur so wimmelt, durchquert, war durch die Hügel des Ewigen Nebels geirrt, hatte die Unpäßlichen Höhen des Neskaja Gebirges erklommen und war schließlich im sonnenverwöhnten Osanda angekommen. Daraufhin war ich dann durch das Tal des Ewigen Sonnenscheins gewandert und hatte festgestellt, daß ein Dorf fehlte und zwar jenes, welches ich eben gerade gefunden hatte. Der Grund, warum ich Ihnen, werter Leser, von diesem Zwischenfall berichte, wird sich in Ihrem gepriesenen Verstand zwar als nichtig erweisen, doch auch Sie werden feststellen, daß er sehr bedeutsam ist. 

Um auf den Fortgang meiner Reise nach Osanda zu sprechen zu kommen, es geschah nichts weiter von Bedeutung. Die Täler blieben weiterhin grün und das Wetter blieb weiterhin sonnig.

Osanda hatte sich nicht verändert. Von dem Pfad, den ich den Hügel hinunterschritt, bemerkte ich, daß die Gerüche, die ich vor siebzehn Jahren hier wahrgenommen hatte, dieselben geblieben waren. Ich roch die Ausdünstungen, die die Schmieden  hinterließen, vermengt mit dem Geruch des Kots der Pferde aus den Stallungen der fünfundzwanzig Kriegerschulen – von den unzähligen nichtmilitärischen Stallungen möchte ich jetzt schweigen – und durchdrungen und parfümiert vom Duft der Zuckerbäckereien, die in dieser Stadt ihren Ursprung gefunden hatten. Doch all das war von hier oben, wo ich stand, überzogen mit dem beißenden Geruch von Schwefel, der sich an diesem klaren Frühlingsmorgen von dem mächtigen Berg, der im Osten über der Stadt thronte, wie eine Wolke über die ganze Gegend ausbreitete. Der Berg, Osimerad, wie die Einheimischen ihn nannten, war ein erloschener Vulkan und war nun das Heim der Drachenreiter und der Hort ihrer Gefährten – den Drachen. Von jeder Drachenart, die je das Licht der Welt erblickt hatte, lebten in diesem Berg zwei Vertreter: die grünen Drachen, die Kinder des Meeres, die von den Göttern als Herrscher über alle Meere und Seen eingesetzt waren, die blauen Drachen, Kinder des Himmels, die rotgoldenen Sonnendrachen, ebenso wie die silberfarbenen Mondrachen, die sich die Herrschaft über Tag und Nacht teilten, die sagenumwobenen diamantenen Drachen des Lichts und die pechschwarzen Drachen der Dunkelheit. Der beißende Odem eines jeden dieser Geschöpfe entzündete die Luft um sich herum und war in der Lage, ganze Städte einzuäschern. Dennoch waren die Drachenreiter von Osanda sehr wohl in der Lage, diese Macht höchst weise einzusetzen und ihre Drachen nicht zur Befriedigung niederer Machtgelüste zu mißbrauchen. Ich beschloß einen Bogen um die Stadt zu machen, um der Möglichkeit, daß man sich meiner erinnerte, aus dem Wege zu gehen, und direkt den Weg zur uneinnehmbaren Feste der Drachenreiter einzuschlagen. 

Als ich den Fuß der gewaltigen Treppe, die zu dem noch gewaltigeren Bronzeportal hoch oben im Berge führte, erreichte, stellte ich mit Entzücken fest, daß ich bereits erwartet wurde. Wie von selbst taten sich die schweren Tore dort oben auf und ich begann mit dem Aufstieg. Als ich den Kopf der Treppe erreicht hatte erwartete mich dort oben bereits ein Begrüßungs-komitee, das eines Königs würdig gewesen wäre. Allen voran stand dort Aldaleth, der Anführer des Ordens und ehrwürdiger Reiter des noch ehrwürdigeren Lichtdrachen Aarviakohn, aber auch die anderen waren alle versammelt, bis auf einen: Andolar, einen Monddrachenreiter, vermißte ich dort. Alle trugen ihre imposanten Vollrüstungen, die die Magier von Gattwick ihnen aus den abgelegten Häuten ihrer Drachen angefertigt und mit gewaltiger Magie versehen hatten. Jede dieser Rüstungen hatte die Fähigkeit, ihren Träger unverwundbar zu machen, da es kein Material gab, welches es mit der Haut von Drachen aufnehmen konnte. Zudem ließen die Rüstungen ihre Träger auf eine imposante Größe wachsen, damit sie problemlos auf dem Rücken ihrer gewaltigen Tiere durch die Lüfte gleiten konnte und zualledem gab es keinerlei Beschränkungen auf ihre Bewegungsfreiheit. Es war eine farbenfrohe Parade, die mich da empfing, doch noch ehe ich allen freundlich zunicken konnte, ergriff Aldaleth das Wort.

„Sei gegrüßt, ehrwürdiger Sohn des Windes. Erfülle unser bescheidenes Heim mit Deinem Glanz.“

Die Anrede ‚Sohn des Windes‘ war zwar schon lange nicht mehr angemessen, aber es war dennoch schön mitanzusehen, wie jene Menschen, die mich vor noch gar nicht so langer Zeit ihres Landes verwiesen hatten, nun ganz offensichtlich meine Hilfe brauchten, denn ansonsten würde Aldaleth nicht so tief in seiner Floskelkiste herumwühlen. Ich beschloß, den Gruß zu erwidern.

„Auch ich grüße Euch, Aldaleth, erwürdiger Sohn des Himmels. Möge mein bescheidenes Antlitz Euer prächtiges Heim nicht entweihen.“

Dann verbeugte ich mich tief, was Aldaleth selbstverständlich erwiderte. Daraufhin bedeutete er mir, ihm zu folgen und er schritt voran in die prächtige Halle.

Der Tagungssaal war festlich geschmückt, die Tafel reich gedeckt. Die Drachenreiter hatten ihre Rüstungen noch immer nicht abgelegt, was ich zunächst irrtümlicherweise als Ehrung meiner Anwesenheit auffaßte, doch ich sollte bald eines Besseren belehrt werden. Als alle Platz genommen hatten gab Aldaleth das Essen frei, jedoch war ich der einzige, der die Speisen anrührte. Verdutzt hörte ich auf und blickte fragend und erwartungsvoll im Kreis umher, nur um ernste Blicke erwidert zu bekommen. Schließlich ergriff ich das Wort.

„Ich denke, daß es nun an der Zeit wäre, mich über den Grund meines Kommens aufzuklären. Es scheint sich um ein sehr unerfreuliches Thema zu handeln.“

Aldaleth gab Dienern das Signal, die Tafel abzudecken und sprach erst, als sie geendigt und den Saal verlassen hatten.

„Ehrwürdiger Sohn des Windes. Die Dinge, die Deine Gegenwart hier erfordern, sind in der Tat ernster Natur. Unsere Boten haben uns zugetragen, daß großes Unheil über unsere Welt kommen wird. Weckt der Name Locmaar Erinnerungen in Dir?“

Was für eine Frage. Natürlich war mir Locmaar bekannt, und die Erinnerungen, die er in mir weckte, waren keineswegs erfreulicher Natur. Locmaar war vor unzähligen Jahren aus Gattwick verbannt worden, weil er sich den Wegen der schwarzen Magie zugewandt hatte.

„Ich kenne Locmaar und bin keineswegs erfreut zu hören, daß er wieder etwas im Schilde führt.“

Aldaleth erhob sich und ging nervös an seinem Platz am Kopf der Tafel auf und ab.

„Locmaar hat sich einer neuen Kunst zugewandt. Seine Studien beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit Beschwörungen.“

Nun wurde ich nervös. Ich wußte, das Locmaar sich niemals für Dinge von gering katastrophalen Ausmaßen interessiert hatte, so daß eine Beschwörung, die er durchführen würde, in der Tat eine Bedrohung für alles Leben auf unserer Welt darstellte.

„Was will er beschwören?“

Die Antwort ließ einige denkwürdige  Augenblicke auf sich warten und Alda-leth räusperte sich verlegen, bevor er sprach.

„Kar Achton Gah.“

Alle Nervosität war von mir gewichen. Ich hatte zunächst etwas sehr Gefährliches erwartet, doch diese Antwort ließ mich erleichtert aufatmen.

„Den Prinzen der Dunkelheit kann man nicht beschwören,“  erklärte ich sach-lich, „die Götter können unsere Welt nicht betreten. Also können wir Locmaar ganz beruhigt beschwören lassen.“

Der Anführer der Drachenreiter blickte mich ernst an. Seine dunklen Augen durchbohrten mich und sein Blick ließ Unruhe in mir aufkommen.

„Der ehrwürdige Sohn des Windes irrt sich. Die Zeremonien Locmaars sind beinahe abgeschlossen. Ihm fehlen zur Vollendung nur noch zwei Dinge: Die Schriften Hrothgars und das Buch der Zeit. Wir müssen sie bekommen bevor er seine schmutzigen Finger nach ihnen ausstrecken kann. Nur das Feuer unserer Drachen vermag sie zu zerstören.“

Die Überzeugung, mit der das sagte, ließ Zweifel in mir aufkommen. Mit dem Buch der Zeit hatte er eine Möglichkeit genannt, die ich außer Acht gelassen hatte. Allerdings war jenes Werk seit hunderten von Jahren verschollen. Nur, so stellte sich mir die Frage, was hatte ich damit zu tun? Ich hatte außer Mythen und Legenden kein Wissen über sowohl die Schriften Hrothgars als auch das Buch der Zeit. Zudem waren die Aussichten für mich, jenes verschollene Wissen zu finden, im Gegensatz zu den Fähigkeiten der Drachenreiter, mehr als bescheiden.

„Angenommen, diese Werke existieren wirklich, so steht es zweifellos außerhalb meiner Macht, sie in meinen Besitz zu bringen. Wenn Ihr sie nicht besorgen könnt, ehrwürdiger Sohn des Himmels, so kann ich es gewiß nicht.“

„Der ehrwürdige Sohn des Windes irrt sich auch hierbei. Unser beschränkter Verstand wurde mit dem Wissen über den Aufenthaltsort der Schriften Hrothgars gesegnet. Es steht nicht in unserer Macht, jenen unheilvollen Ort aufzusuchen.“

Ich war nun sehr gespannt, welche Begründung er mir anführen konnte, warum er die Schriften nicht holen konnte.

„Erleuchtet mich. Wo sind sie?“

„Die Schriften werden in der Stadt neben den Welten aufbewahrt und wir wissen, wie man sie betreten kann.“

Die Stadt neben den Welten. Was für ein schlechter Scherz, welch ein Humor, den er in diesen unheilvollen Stunden an den Tag legte.

„Gesetzt den Fall, daß sie tatsächlich dort liegen, wie gedenkt Locmaar neben die Welten zu treten?“

„Wie ich bereits sagte, wir wissen, wo der Zugang zu jener Stadt möglich ist.“

„Wo?“

„Im Berg des Lichts.“

Der Berg des Lichts

Der Berg des Lichts, so sagt die Legende, ist der einzige Ort, an dem man mit den Göttern kommunizieren kann. In alten Sagen wird er der Berg des Lichtes genannt, weil seine Spitze den Mantel der Nacht durchdringt und sein Gipfel die wärmenden Strahlen der Sonne nicht zu missen braucht. Die Legende sagt weiterhin, das ein gewaltiger Drache diesen Ort beschützt, welcher jedesmal, wenn die Sterblichen die Götter erzürnen, einen Regenbogen hernieder schickt.

Für mich gab es zwei Gründe, diesen Geschichten keinen Glauben zu schenken. Der erste war sehr einleuchtend: warum hatte noch nie ein Sterblicher diesen gewaltigen Berg zu Gesicht bekommen, durchdrang er doch den Mantel der Nacht und war demzufolge von jedem bekannten Fleckchen Erde aus zu sehen? Und warum würde ein erzürnter Gott die Menschen mit einem Regenbogen strafen, wenn sich doch ein jeder Sterblicher freute, bekam er mal einen zu Gesicht? Zudem hatte Meister Tamyo mich seinerzeit aufgeklärt, was es mit Regenbögen auf sich hat und ein Drache kam in seinen Erzählungen nicht vor. Dann hatten die Drachenreiter erzählt, das in diesem Berg des Lichts das Tor zwischen die Welten liegen soll, konnten mir bezüglich des Standortes des Berges allerdings auch keine näheren Auskünfte erteilen. Alles erschien mir reichlich misteriös, fiel mir doch keine Begründung ein, warum sie nach mir hätten schicken können. Da sie jedoch nicht zu scherzen schienen, mußte ich mir einen Weg überlegen, ihnen zumindest den Beweis zu bringen, daß der Berg des Lichts nicht existierte. 

Nach sorgfältigen Überlegungen und Interpretationen der Legenden kam ich zu dem Schluß, den Berg des Lichts finden zu können, wenn ich in der Lage sein würde, einen Regenbogen zu machen. Halten Sie mich bitte nicht für verrückt, hoch geschätzte Leser; ich habe weder die Mittel, noch die Ideen, um einen Regenbogen zu machen. Ich hatte eigentlich nur an einen kleinen Betrug gedacht. Ich erinnerte mich an eine von Meister Tamyos Erzählungen, die besagte, daß einen der Wind an das Ende eines Regenbogens tragen kann und ich dachte mir, wenn ich am Ende eines Regenbogens stünde, wäre das eben so gut, als hätte ich selber einen erschaffen. Das Problem war nunmehr, einen der Winde davon zu überzeugen, mich an jenes besagte Ende zu tragen. Um mit den Überredungen zu beginnen beschloß ich, mein Quartier an den Ufern des Sonnensees zu beziehen, jener heiligen Stätte, an der ich von Meister Tamyo in die Geheimnisse der Natur eingeweiht wurde.

Der Sonnensee lag in seiner vollen Schönheit unter der Pracht der aufgehenden Sonne da, als wäre das Himmelsblut auf seine erhabene Oberfläche gemalt. Als ich in dieser Vollkommenheit an seinen Ufern lustwandelte, striff mich der Atem der Vergangenheit. Ich erkannte einige der Bäume und wunderte mich nicht, daß sie mich begrüßten. Sogar ihre Namen kamen mir wieder in den Sinn. Doch alles das war unbedeutend im Vergleich zu dem Gefühl, das mich beschlich, als ich den Sonnenbaum erblickte, der schützend seine Bläter über das efeubewachsene Grab Meister Tamyos legte. Zu Füßen dieses Baumes setzte ich mich nieder und versuchte, meine Gedanken schweifen zu lassen, fernab in die Vergangenheit und die Geheimnisse meines Ordens. Der Wind strich sanft über die Oberfläche des heiligen Sees und kräuselte das Abbild des Himmels, so daß es noch malerischer aussah. Und inmitten dieser unbeschreiblichen Idylle kam mir eine Idee. Die Essenzen des Regenbogens waren – nach Meister Tamyo – Licht und Wasser und ich befand mich an ebenso einem Ort, der beide Essenzen miteinander verband, dem Sonnensee. Ein Ende eines jeden Regenbogens mußte also an diesem Ort liegen, ich brauchte nur noch auf einen zu warten. Und während ich dort saß und geduldsam auf einen Regenbogen wartete, stieg aus den Fluten des Sonnensees der sagenumwobene Berg des Lichts empor.

Der Drache im Regenbogen

Der Aufstieg war mühsam und es hätte mich nicht verwundert, hätte ich tatsächlich den Mantel der Nacht durchlaufen. Doch meine Mühen sollten belohnt werden mit einem Anblick, wie ihn selbst die Götter nicht oft genießen. Wider Erwarten erreichte ich den Gipfel des Berges noch bevor ich den Mantel der Nacht durchdrungen hatte und folgendes Bild streichelte meine Augen: Eine Säule gleißenden Lichts trat aus einer Öffnung aus dem Berg hervor. In ihr lag verschlungen eine gewaltige, majestätische Kreatur, deren durchscheinender, schlangenähnlicher Körper mit riesigen Schuppen aus geschliffenem Glas bedeckt war. Die Lichtsäule wurde durch diesen Körper in einem fantastischen Schauspiel in alle Farben des Regenbogen gebrochen. Ausgestreckt mochte dieses beeindruckende Wesen eine Länge von vielen hundert Metern haben, doch just in diesem Augenblick schien es zu schlafen. Ich betrat das Hochplateau, das den Gipfel darstellte, als ich bemerkte, daß sich der titanengleiche Körper zu bewegen begann. Ich glaubte, so etwas wie ein Räkeln warzunehmen. Gewaltige Lider entblößten ebenso gewaltige Augen und ein Donnern erfüllte die Luft um mich herum, als sich diese Sagengestalt vor mir als nur zu real entpuppte.

„Wer bist Du, Sterblicher, daß Du es wagst meinen Schlaf zu stören?“

Ich hatte die Vermutung, daß es keinen Sinn haben würde, eine solche Kreatur zu belügen und beschloß daher, die Wahrheit zu sagen.

„Ein bescheidener Sohn des Windes stört Deinen Schlaf, Erhabener. Ich erbitte Zugang zur Stadt neben den Welten.“

„Vor nunmehr einhundert Jahren ward mein Schlaf das letzte Mal gestört. Ein Sohn des Windes war auch jener, der mich damals weckte, doch Du warst es nicht. Warum benennst Du Dich nach ihm?“

Meister Tamyo war hier gewesen. Warum hatte er mir nie davon erzählt und was hatte er in der Stadt neben den Welten gesucht?

„Der, von dem Du sprichst, Erhabener, war mein Lehrer, doch mittlerweile hat ihn der Tod ereilt.“

„Wohlan. So sollst Du, wie einst Dein Lehrer, Dich des Zutritts als würdig erweisen. Die Prüfung möge beginnen.“

Was war denn das nun wieder? Von einer Prüfung hatten die Drachenreiter kein Wort verloren, jedoch erschien es mir als wenig sinnvoll und weise, mich zu beschweren. Die Welt um mich herum, begann sich zu drehen und ich befand mich plötzlich in einem dunklen Korridor. Ein kühner Krieger rannte mir vom anderen Ende entgegen, sein Schwert wild über dem Kopf schwingend. Augenscheinlich wollte er mein unbedeutendes Leben aus mir fremden Gründen beenden. Da ich unbewaffnet war, entschloß ich mich, mir auf einem unkonventionellen Weg, einen Vorteil zu verschaffen: In dem Augenblick, wo der Krieger zu einem Sprung ansetzte, um mich mit einem gewaltigen Hieb zu enthaupten, ergriff ihn ein heftiger Luftwirbel, den ich mit meinen bescheidenen Mitteln gerufen hatte, und schleuderte ihn gegen eine Wand, wobei es ihm unmöglich war, sein Schwert in Händen zu halten. Ich nahm die nun herrenlose Waffe an mich und streckte den Krieger nieder, als ich mich auf einem gewaltigen Marktplatz wiederfand. Die entäuschende und ebenso geschmacklose Prüfung hatte offensichtlich ihr schnelles Ende gefunden.

Die Stadt neben den Welten

Die Stadt neben den Welten ist ein Bauwerk, das seinesgleichen auf den bekannten Welten nicht findet. Errichtet von den Urmenschen, den Khaz, die einst sämtliche Fähigkeiten, die die Menschen besitzen, in einem jeden vereinigt hatten, wurde es zu einer Zuflucht für all jene, die es gewagt hatten, die Götter herauszufordern. Das Kuriosum an dieser Stadt war, daß die Menschen, die dorthin verbannt wurden, ihre Macht zwar weiter entfalteten, jedoch die Stadt nicht mehr verlassen konnten. Dies war, so sagt man, vor langer Zeit die einzige Möglichkeit für die Götter gewesen, sich dieser ungeheuren Bedrohung für ihre eigene Existenz zu entledigen. 

Hrothgar, dessen Schriften ich hier suchte, war seinerzeit einer der zwölf Magier in Gattwick gewesen, die den Hohen Rat der Macht bildeten. Am Ende des Lebens eines jeden dieser Magier ist es ihm vorherbestimmt, dem Ruf der Magie zu folgen. Doch Hrothgars Streben ging weiter, als mit der Magie zu verschmelzen; er hatte das Geheimnis der Unsterblichkeit entdeckt und so gingen alle seine Mühen daraufhin, ein Gott zu werden. In seinen Schriften war einiges über das Wesen der Götter aufgeführt, was jenseits des herkömmlichen Menschenverstandes geht, jedoch von essentieller Wichtigkeit für die Beschwörung eines Gottes sein müßte. Um diese Aufzeichnungen vor dem Zugriff der Götter zu schützen, hinterlegte er sie, weil er selber ein Khaz war, in der Stadt neben den Welten. Zu jener Zeit war seine Macht allerdings schon so weit fortgeschritten, daß die Götter sich nicht mehr in der Lage fanden, ihn ebenfalls in die Stadt zu bannen und so entschlossen sie sich, ihm den Status eines Halbgottes zu geben, auf das auch er die Stadt neben den Welten nicht mehr betreten konnte. Nun wird sich der höchst geschätzte Leser sicherlich fragen, wie ich mir vorstellte, die Stadt mit den Schriften zusammen wieder zu verlassen. Um ganz ehrlich zu sein,  zu jenem Zeitpunkt hatte auch ich noch nicht die geringste Ahnung, wie ich das vollbringen sollte, aber immerhin war Meister Tamyo vor mir hier gewesen und auch er war zurückgekehrt.

Wie schon gesagt, ich stand auf einem überaus großen Marktplatz, verwunderlicherweise immer noch mit dem blutgetränkten Schwert des kecken Kriegers in meiner Hand und, was noch verwunderlicher war, es lag zu meinen Füßen der noch zuckende Leib eines bedauernswerten Passanten. Wie das Schicksal es so wollte, stand zufällig gerade eine Abordnung bewaffneter Stadtgardisten bereit, mich freudestrahlend abzuführen. Mein erster Eindruck von dieser Stadt beschränkte sich auf den Weg von eben jenem Marktplatz zum Gefängnis und obwohl der Zeitpunkt ungünstig war, so hatte ich dennoch ein schönes Erlebnis auf dem Weg dorthin. Am Ende des großen Platzes erhob sich eine gewaltige Treppe. Sie führte auf einen weiteren Platz, der sich getrost mit allen Plätzen, die ich je gesehen hatte – und das waren sehr, sehr viele – an Schönheit messen konnte. Die Wachen waren so freundlich mir mitzuteilen, das der Ort mit dem vortrefflichen Namen Platz der Tausend Brunnen belegt war. Ob es tausend Brunnen waren, vermag ich nicht zu sagen, aber es war sicherlich eine ganze Menge an Brunnen vorhanden, die in allen vorstellbaren Größen aus allen vorstellbaren Formen von Wasserspeiern, Tritonen und Gargylen ein unglaubliches Schauspiel abgaben. Um diese Kunstwerke waren unzählige Gärten und Beete angelegt, bewachsen von Pflanzen aller Arten und belebt von der erquickenden Fröhlichkeit munterer Kleintiere. Durch den vielfarbenen Schleier myriardener Wassertropfen erblickte ich am Ende dieses Platzes eine gigantische Treppe, die zu einer titanenhaften Burg aufstieg, deren Silhouette von nicht weniger als tausend Türmen gebildet wurde. Durch den Brunnendunst wirkte es wie das sagenumwobene Märchenschloß der geheimnisvollen Elfenprinzessin Caerowyn, das irgendwo jenseits des legendären Reiches der bitterbösen Schneekönigin liegen soll. Ich wunderte mich nur, daß Meister Tamyo mir davon nichts erzählt hatte, aber andererseits hätte es diesem Moment des wundersamen Erblickens einiges an Magie genommen. Doch trotz dieser Schönheit war mir noch immer bewußt, daß man mich des Mordes anklagen würde. Am Ende des fantastischen Platzes erreichten wir ein Bauwerk größter Pracht, welches man für den Sommersitz eines Königs hätte halten können, aber nicht für ein Gefängnis. Jedoch war es eben jener Palast, zu dem man mich führte und es entpuppte sich von innen als noch kostbarer, als man je hätte erwarten können. 

Nach einer recht kurzen Grichtsverhandlung stand das Urteil fest. Man hatte mich zu vierzig Jahren Aufenthalt in einem Strahlenkäfig neben der Stadt verurteilt, was, wenn man es objektiv betrachtete, ein sehr mildes Urteil war. Angesichts der relativen Dringlichkeit meines Auftrags erschienen mir diese vierzig Jahre doch sehr lang und unangenehm. Nachdem man mich in jenen Strahlenkäfig verfrachtet hatte, welcher mir übrigens eine wundervolle Aussicht über die ebenso schöne wie riesige Stadt ermöglichte, begann ich mir zu überlegen, wie ich die Schriften Hrothgars in meinen Besitz bringen konnte, um die Stadt – so leid es mir tat, denn sie war wirklich wunderschön mit ihren unzähligen Parkanlagen und Wäldern, den Schlössern und Herrenhäusern und den irrsinnig schönen Seen – wieder zu verlassen. Ein sanfter Wind umgab mich in diesem geradezu obszön leuchtenden Gittergebilde und mir war, als vernähme ich eine Stimme, die Vater Wind zu mir trug.

„Lausche mit Deinem Herzen, Meskal, dann vermagst Du den Wind zu fangen.“

Meskal! Den Namen hatte Meister Tamyo mir gegeben und ich hatte ihn in anderer Gegenwart nie gebraucht. War diese Stadt von den Welten, die die Götter erschaffen hatten, doch nicht so weit entfernt, wie man immer angenommen hatte? Reichte die Essenz der Lüfte bis neben die Welten? Wenn dem so war, so würde meine Heimreise einfacher aussehen, als erwartet. Ich beschloß, dem Rat meines verstorbenen Meisters zu folgen und begann, meinen Geist einzuschläfern, damit meine Seele die Macht über meinen Körper ergreifen konnte. Und ich lauschte und fing den Wind. Ich befahl dem Wind, die Schriften Hrothgars zu finden und zu mir zu tragen und er fand sie und brachte sie mir. Und als ich ihn bat, mich nach Hause zu tragen, fand ich mich am Ufer des Sonnensees zu Füßen des Sonnenbaumes wieder – in den Händen hielt ich das einzigartige Werk des großen Magiers Hrothgar.

Der Baum und der Vogel

Ich hatte mich entschlossen, die Aufzeichnungen zu den Drachenreitern zu tragen, bevor die Suche nach dem Buch der Zeit beginnen sollte. Während meiner Reise entdeckte ich zu meinem Entsetzen, daß auch diesmal ein alteingesessenes Dorf einem mächtigen Sturm zum Opfer gefallen war. Es mußte etwas mit Locmaars finsterem Treiben zu tun haben, denn natürlich war auch diese Verwüstung nicht. Wahrscheinlich sammelte er gerade Unmengen von unsterblichen Seelen, die mit ihm zusammen bei seiner Beschwörung die notwendigen schmutzigen und finsteren Choräle anstimmen konnten. Warum aber nur ließen die Drachenreiter das geschehen? Hatte der Name Locmaar sie in panische Angstzustände versetzt, daß sie zu nichts mehr in der Lage waren, als zu hoffen, daß meine Wenigkeit alles wieder richten würde? Wie dem auch war, ich trug die Aufzeichnungen nach Osanda, um dort neue Instruktionen zu erhalten, bezüglich des Buches der Zeit. Die Freude über die Schriften Hrothgars war groß bei den Drachenreitern und ich hatte viel zu tun, um ihnen alles zu schildern, was auf meiner kurzen Reise vorgefallen war. Meine Erzählungen über die zerstörten Dörfer riefen Verwunderung und Entsetzen bei ihnen hervor, versicherten sie mir doch, von alledem nichts mitbekommen zu haben. Große Verärgerung weckten sie hingegen bei mir, als sie mir bezüglich des Aufenthaltsortes des Buches der Zeit nicht mehr erzählen konnten, als ich bereits aus diversen Kindermärchen wußte. Sie vertrösteten mich jedoch damit, daß Locmaar auch nicht mehr wissen würde, wo er doch so eifrig mit der Zerstörung von Dörfern beschäftigt war, daß er es wohl kaum hatte in seinen Besitz bringen können und ermunterten mich mit der Tatsache, daß sich ja schon ein Märchen als wahr entpuppt hätte, so daß es einem brillianten Geist wie dem meinen ein Leichtes sein müßte, auch diese Legenden zu entschlüsseln. Resigniert verließ ich die werten Herren von der Bruderschaft der Drachenreiter und reiste erneut zum Sonnensee, welcher mir schon einmal ein sehr guter Wegweiser gewesen war. 

Nach den Legenden zu urteilen, war das Buch im Tempel der Winde, einem Ort, von dem nicht einmal Meister Tamyo gewußt hatte, wo er sich befand – es sei denn, daß auch dieser Mythos sich zu der Reihe von Dingen gesellen sollte, die er mir wohlweislich verschwiegen hatte. Also war es wieder einmal an mir, meine Phantasie spielen zu lassen, um des Rätsels Lösung zu finden. Meister Tamyo hatte mir erzählt, daß der Körper der Tempel der Seele sei und da ich nur über meine Seele den Wind rufen konnte, konnte man meinen Körper als Tempel der Winde bezeichnen. Allerdings hatte die Sache einen Haken: ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals ein Buch verschluckt zu haben, ganz zu schweigen vom Buch der Zeit. Nein, es mußte eine andere Deutung geben, doch je mehr ich überlegte, desto weniger fiel mir ein. Nach einigen Tagen krampfhaften Überlegens war ich mir sicher, daß es weder einen Tempel der Winde, noch ein Buch der Zeit geben konnte, als sich ein unerhörter Zwischenfall ereignete. Auf einer großen Eiche, unweit des Sonnenbaumes, hatte die ganze Zeit meines Nachdenkens eine kleine Lerche gesessen und hatte den Baum mit ihren Liedchen unterhalten. Gegen Mittag des achten Tages fiel sie allerdings regungslos und unerwartet von dem Ast herunter, auf dem sie gesessen hatte und blieb tot liegen. Im selben Augenblick vernahm ich das Klagen des Baumes über den Verlust seines Freundes und ich fragte den Baum, „Du trauerst sehr?“ und er antwortete, „Ja.“

„Wann ist Dein Freund zu Dir gekommen?“

„Ich nahm vor zwanzig Tagen den Wind aus seinen Federn.“

„Und was geschieht nun mit dem Wind?“

„Der Wind folgt der Seele in den Tempel der Winde.“

Der Tempel der Winde, es gab ihn tatsächlich. Ich brauchte dem Wind nur dorthin zu folgen. Ich bedankte mich bei dem liebenswürdigen, trauernden Baum und machte mich auf den Weg, dem Wind zu folgen. 

Der Tempel der Winde

Weit über den Wolken erreichte ich mein Ziel. Zunächst hielt ich das, was ich dort sah, für eine Luftspiegelung, denn es sah einfach zu fantastisch aus. Es war ein Gebilde aus Wolken und Licht, zu dem der Wind geradenwegs flog. Ich bedankte mich bei dem Ostwind, der mich freundlicherweise hierhergetragen hatte und betrachtete diesen Tempel der WInde. Er sah sehr schön aus und war überaus groß – nur einen Eingang hatte er nicht. Wie sollte man diesen Tempel betreten, wenn er nicht einmal einen Eingang hatte? Ich war meinem Ziel zwar ein Stück näher gekommen, aber wie sollte ich nun das Buch der Zeit besorgen? 

Da es ein Tempel war, mußte man davon ausgehen, daß dort etwas verehrt wurde, die Winde nämlich. Die entscheidende Frage war nun, wer hatte an diesem Ort die Winde verehrt? Es mußten Wesen aus lang vergangenen Zeiten sein, die auf jeden Fall fliegen konnten, denn sonst wäre dieser Ort für eine Verehrung denkbar ungeeignet gewesen. Aus früheren Zeiten konnte ich mich nur an zwei Arten von Wesen erinnern, die Flugeigenschaften hatten: zum einen waren da die Pixie, die jeoch ausschieden, weil sie außer Blumen und derben Späßen noch nie an auch nur Irgendetwas ernsthaftes Interesse gezeigt hatten. Blieben also eigentlich nur die Jegundé übrig, eine ausgestorbene Kultur von Vogelmenschen, die ihren Höhepunkt lange vor dem Erscheinen der Elfen und Zwerge hatte. Meine Überlegung war, die Namen der vier Winde in der alten Sprache der Jegundé zu rezitieren, in der Hoffnung, daß sich ein Tor auftun würde. Also wühlte ich in meiner Erinnerung, um diese vergessene Sprache wieder ans Tageslicht zu bringen. Dann fiel sie mir wieder ein; sie war einem Dialekt der Elfen recht ähnlich.

„Erhöret mich, erlauchte Winde. Erhabener Nordwind, der Du die Wärme über das Meer trägst; ehrenwerter Ostwind, der Du die Felder der Bauern mit Regen tränkst; erlauchter Westwind, der Du den Schnee von den Bergen herabbringst und auch Du, ehrwürdiger Südwind, der Du den Wolken Einhalt gebietest. Erhöret mich und laßt mich herein.“

Es geschah nichts, zumindest nicht sofort. Dann ertönte eine tiefe, dumpfe Stimme, die mir noch heute einen Schauer über den Rücken laufen läßt, wenn ich daran denke.

„Dir werde aufgetan, wenn Du Dein Begehren nennst.‘

„Ich bin gekommen, das Buch der Zeit zu holen.“

Ich versuchte, meiner Stimme eine Art Befehlston beizumischen, um mir die nötige Autorität zu verschaffen und um sicherzugehen, daß man mir das Buch aushändigte. Dann sprach die Stimme erneut und diesmal bekam ich Angst von der Schwere dieser Worte und glaubte sogar, einen warnenden Unterton zu vernehmen.

„Wenn Du es haben möchtest, dann mußt Du es Dir verdienen.“

Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, deswegen konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Dann verschwamm alles um mich herum und als sich wieder ein Bild schärfte, gefror das Lächeln auf meinem Gesicht.

Der Hüter der Zeit

Ich befand mich auf einer schier endlosen Ebene, die übersät war mit stinkenden Kadavern und anderen Überresten einst fruchtbaren Lebens. Abgesehen von dem überaus unangenehmen Gestank, war als besonders widerlich zu vermerken, daß ich bis zu den Knien in teils geronnenem Blut und verfaulten Eingeweiden stand, von denen auch noch einige zuckten. Und ich hatte in meiner grenzenlosen Naivität angenommen, daß es nicht mehr schlimmer kommen konnte. So weit ich blicken konnte – und das war bei diesem dämmrigen Licht beileibe nicht sehr weit – nahm dieses abscheuliche Szenario kein Ende, worauf ich mir berechtigterweise die Frage stellte, was das hier nun eigentlich sollte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß all diese Leute das Buch der Zeit gesucht hatten, nur wen sollte ich fragen, was der tiefere Sinn dieses Anblicks sein könnte?

„Hallo! Ist hier wer? Hallo?“

Mein Rufen blieb zunächst unerhört und so begann ich resigniert, in irgendeine Richtung in diesem fauligen Brei des Todes loszustapfen. Kurz darauf geschah etwas, wovon ich bis heute nicht sagen kann, ob ich mich darüber hätte freuen sollen oder nicht. Zunächst nahm ich nur eine Bewegung am Horizont wahr – sofern man bei diesen gefährlichen Sichtverhältnissen überhaupt von einem Horizont sprechen konnte – deren Urheber sich allerdings sehr bald als humanoid entpuppte. Es war eine Kreatur von über zwei Metern Größe, die von überaus kräftigem Körperbau war. Sie war mit langen schwarzen, mit Silber bestickten Roben bekleidet, so daß man nur den Kopf sehen konnte. Eigentlich war es nur ein mit Haut bespannter Schädel, der vollständig hohl zu sein schien, denn aus allen Öffnungen trat ein grünliches Licht hervor. Ich hatte ein Wesen dieser Art noch nie zuvor in meinem ereignisreichen Leben gesehen, noch davon gehört. Es bewegte sich rasend schnell auf mich zu und hielt in kurzer Entfernung vor mir an. Eine Stimme ertönte in meinem Kopf, die so klang, als würden die Götter selbst zu mir sprechen.

„Ihr erblicket die Überreste einer einst blühenden Kultur, die Ihr Menschen hierzu gemacht habt. Mit Entzücken stellen wir fest, daß Ihr gekommen seid, um Eure Schuld zu begleichen.“

Das konnte dieses Wesen ja wohl unmöglich ernst meinen. Was um alles in der Welt hatte denn ich schon wieder damit zu tun, daß meine barbarischen Vorfahren den Jegundé die Köpfe eingeschlagen hatten? Dennoch blieb ich ganz ruhig und versuchte lieber, etwas über mein Gegenüber zu erfahren.

„Wer seid Ihr und wo bin ich hier?“

„Wir sind Wächter der Zeit, Richter des Lebens und Vollstrecker der Strafe in Einem. Wenn Ihr den Ort nicht kennt, den Ihr hier betreten habt, was ist dann Euer Begehr?“

„Ich suche das Buch der Zeit.“

„Das Buch der Zeit sucht Ihr? Habt ihr es diesmal endlich auf euch selber abgesehen? Habt Ihr nicht schon genug Unheil angerichtet? Reicht die Vernichtung einzelner Kulturen nicht mehr aus? Muß es nun die ganze Welt sein?“

„Versteht mich nicht falsch, erhabener Dreieiniger; wir wollen es nicht gebrauchen, sondern es zerstören.“

„Wer will es zerstören? Ihr? Wie gedenkt Ihr, das zu vollbringen? Wollt Ihr es zerreißen und die Seiten verbrennen?“

Er verspottete mich. Dieses Wesen, was sich offensichtlich unter ekligsten Lebensumständen am wohlsten fühlte, verspottete mich. Wächter der Zeit hin oder her, das brauchte ich mir eigentlich nicht gefallen zu lassen, tat es aber trotzdem, denn ich wollte diesem unbekannten Sohn eines vergammelten Uhrenglasrahmens keine Schwäche meinerseits anbieten, die er vielleicht irgendwie nutzen konnte.

„Nicht ich persönlich will es zerstören. Die Drachenreiter von Osanda werden es tun.“

„Oh, haben sie Euch das gesagt, ja? Und wenn sie es nicht tun, Gutgläubiger.“

Gute Frage, wirklich eine sehr gute Frage. Sollten sie es vielleicht in ihre Bibliothek stellen, oh weiser Wächter? Was glaubte der eigentlich, wer er war?

„Bekomme ich nun das Buch der Zeit? Es wäre wirklich zu freundlich, da ich diesen Gestank nicht länger ertragen kann.“

„Was seid Ihr bereit, dafür zu geben? Ich verschenke nichts.“

Geizig war sie also auch noch, diese Sammlung schlechter Eigenschaften.

„Was wollt Ihr dafür haben, oh Richter der Schwachen?“

„Ich will nichts weiter als Euer Ehrenwort, daß Ihr für die Vernichtung Sorge tragt. Haltet Ihr Euer Wort nicht, so sollt Ihr unendliches Leid erfahren.“

„Ich werde dafür sorgen. Bekomme ich nun das Buch?“

„Rennt nicht so ungeduldig in euren Untergang. Ihr werdet es bekommen, wenn Ihr dafür Sorge getragen habt, daß die Jegundé ihren ewigen Frieden finden.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ich haben nichts mehr zu sagen.“

Der Hüter der Zeit begann, sich langsam aufzulösen, jedoch, bevor er verschwunden war, sagte er noch etwas.

„Geht nicht in euren Untergang. Kehrt um!“

Die Stimme hallte aus der Unendlichkeit wieder und wieder. Dann verklang sie leise und eine unheimliche Stille legte sich über das Feld der Toten. Sie drückte auf meine Seele und machte mir das Atmen schwer wie ein dichter Nebel. Was hatte es mit dem Fluch der Jegundé auf sich? Was sollte ich tun, um das Buch zu bekommen? Das dämmrige Licht ließ langsam nach und bereitete die Bühne für ein schreckliches Schauspiel.

Der Fluch der Jegundé

Eine unheimliche Dunkelheit legte sich über die schreckliche Szenerie, nur durchbrochen von einem dämmrigen, roten Leuchten. Ein leichter Wind strich über den gigantischen Friedhof und kräuselte die blutige Oberfläche. Dann nahm der Wind zu und es erklangen Stimmen, Stimmen von Frauen, die ihr Leid klagten, Geschrei von Kindern, Kampflärm erklang und Schreie von Männern – Schreie der Angst und der Schmerzen. Der Sud aus Blut und Gedärmen begann zu brodeln und es kam Bewegung in die darin schwimmenden Leichname. Einige erhoben sich, rissen ihre Hände gen Himmel, schrien vor Verzweiflung, flehten um Gnade. Der Wind wurde stärker und immer mehr Tote gesellten sich zu dem traurigen Klagen. Dann zogen in einem gewaltigen, brillianten Lichtspiel Wolken auf, tanzende Lichter aller Farben umgaben sie, als sich aus den Wolken ein Kopf bildete. Ein Dämon fürchterlichster Art, dessen teuflisches Grinsen selbst mir Angst machte, erschien am Himmel. Flammen züngelten aus seinen Augen und seinem Mund, als dröhnendes Gelächter das Klagen übertöhnte. Viele der flehenden wurden vom Wind ergriffen und fortgeschleudert, andere begannen, in Flammen aufzugehen und über dem Lärm des panischen Geschreis lag immer dieses Lachen der Höllenbrut. Das also war der Fluch, sie durften nicht sterben. Dieses Monster quälte die armen Seelen Nacht für Nacht und ich sollte mich mit ihm anlegen. Ich befahl dem Wind, zu schweigen. Die Grabesstille trat wieder ein, nur vereinzelt war noch ein Stöhnen eines Jegundé zu hören. Des Dämons Augen blickten zu mir und schien mich zu durchdringen. Wellen grauenhafter Schmerzen durchfuhren meinen Körper und fast hätte ich das Bewußtsein verloren, doch das wollte die Ausgeburt der Hölle offensichtlich nicht. Sein Grinsen wurde immer teuflischer und Stöße riesiger Flammen zuckten aus seinen Nüstern. Schließlich ließ die Tortur ein wenig nach und seine dröhnende Stimme sprach zu mir.

„Niemand wagt es mich aufzuhalten, auch Du nicht, kleiner Mann. Deine Tage sind gezählt. Hast Du noch einen Wunsch, bevor Du Dich zu den anderen gesellst?“

Aus Meister Tamyos Erzählungen über seine Ehrfahrungen mit Teufeln, hatte ich einmal gelernt, daß alle Teufel für ihr Leben gerne wetten und spielen. Da sie zu ihrer überaus grenzenlosen Boshaftigkeit auch noch übermäßig intelligent waren, maßten sie sich an, daß es kein Rätsel geben konnte, welches sie nicht lösen konnten. Auf ihre merkwürdige Art besaßen sie in diesem Zusammenhang sogar etwas wie Ehre. Ich mußte es darauf ankommen lassen.

„Ich möchte um mein Leben spielen“, sagte ich und bemerkte entzückt, daß die Miene des Teufels sich aufhellte. Nun mußte mir nur noch ein Rätsel einfallen.

„Dann werden wir spielen, kleiner Mann. Stelle mir Dein Rätsel und bereite Dich auf Deinen Tod vor.“

„Nun gut,“ sagte ich, „hier ist mein Rätsel. Es ist nicht gut, noch böse. Nicht schwarz und nicht weiß. Hell oder Dunkel ist es auch nicht. Es ist nicht flüssig und nicht fest. Manche Menschen bauen Häuser daraus, doch am liebsten ißt es schwarze Katzen. Was ist das?“

Die Augen des Teufels weiteten sich enorm, dann tat er so als würde er ruhig nachdenken. Ich war sehr gespannt, ob er auf die Lösung kommen würde. Dann verfinsterte sich seine Miene und er begann wieder zu grinsen.

„Ganz einfach. Es gibt keine Lösung. Du wirst sterben“, brüllte er vergnügt.

Ich hatte ein Problem. Natürlich gab es keine Lösung, zumindest war mir noch keine eingefallen. Ich mußte mir schnell eine ausdenken, sonst wäre es um mich geschehen gewesen, doch dann kam mir der rettende Einfall. Selbstbewußt trat ich ihm entgegen.

„Die Antwort ist leider falsch. Es gibt eine korrekte Lösung: das Glück nämlich.“

Der Teufel sah mich an und verzog wieder das Gesicht.

„Das Glück ist gut,“ sagte er, „es gibt keine Lösung.“

„Das Glück ist nicht gut. Auch böse Menschen oder Wesen können Glück oder Pech haben. Du, zum Beispiel, bringst Pech, aber Pech und Glück müssen immer ein Gleichgewicht bilden, also bringst Du auch Glück und gut bist Du nun wirklich nicht.“

Ich fand die Begründung selber gar nicht schlecht und wäre ich betrunken gewesen, so hätte ich sogar geglaubt, was ich da sagte. Der Teufel wiederum begann, Grimassen zu schneiden. Offensichtlich glaubte er mir tatsächlich.

„Da Du das Rätsel nicht nur nicht gelöst hast, sondern Deine Antwort auch noch völlig falsch war, wirst Du in Zukunft die Jegundé in Ruhe lassen. Das wäre nur gerecht.“

Eine Flamme in Form einer Träne kullerte seine Wange herab und er schluchzte heftig.

„Nein, das bitte nicht. Womit soll ich denn sonst spielen?“

„Suche Dir gefälligst ein anderes Volk. Und nun geh, bevor ich mir überlege, Deinen Brüdern von Deiner Dummheit zu berichten.“

Nun war es endgültig geschehen um den armen Kerl. Er brach in eine Flut von Tränen aus und winselte um Gnade, doch ich blieb eisern. Schließlich löste er sich in einem gewaltigen Knall auf und mir fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen. Völlige Stille kehrte nun ein und aus der Ferne kam Herr Zeit mir entgegen – unter dem Arm trug er ein Buch.

Götterdämmerung

Freudestrahlend tanzte ich über die Wiesen und Felder in Richtung Osanda. Nicht nur, daß ich das Buch der Zeit bekommen hatte, nein, ich hatte ein ganzes Volk von ewigen Qualen befreit, hatte aus einem selbstbewußten Teufel ein psychisches Wrack gemacht und ein gutes Rätsel erfunden. Diesmal dauerte meine Reise länger als die Male zuvor, denn ich war nur zu begierig, jedem Vogel und jedem Schmetterling, von meinem Glück zu berichten und sie alle hörten mir zu und dann lachten wir gemeinsam über die Torheit dieses Teufels. Doch trotz allen Pausen, die ich einlegte, erreichte ich Osanda, wenn auch mit Verzögerung – das heißt, ich kam bis zu den der Stadt vorgelagerten Hügeln, denn dort wurde ich bereits erwartet. Mir bot sich ein einzigartiges Schauspiel, ein Empfang, von dem ich sicher bin, daß ihn nie ein anderer hat genießen können. Über den Kuppen der Hügel erhoben sich die Drachen von Osanda, elf von ihnen, alle mit ihrem Reiter auf dem reich verzierten Sattel, den sie auf dem Rücken trugen. Zu diesem Zeitpunkt, als die Drachen in einer den Wildgänsen eigenen V-Formation gen Himmel aufstiegen, weit oben auseinanderflogen, um dann in einem Kreis mit mir zum Mittelpunkt zu landen, spätestens da hätte ich merken müssen, daß etwas nicht stimmte, aber ich nahm in meinem krankhaften Stolz an, daß sie mir ihre Dankbarkeit zeigen wollten. Doch dann erschien auf dem nördlichsten Hügel ein Mensch, gekleidet in wallende, schwarze Gewänder. Einen Augenblick blieb er dort oben stehen und die Drachenreiter, ja sogar die Drachen stimmten einen dumpfen, obszönen Gesang an. Daraufhin schritt die Gestalt mit ausgebreiteten Armen den Hügel herab auf mich zu und als sie näher kam, erkannte ich, wie einen Alptraum, einen Schatten aus der Vergangenheit, jenen dunklen Magier und Priester Kar Achton Gahs: Locmaar. Nun konnte selbst mein gutgläubiges Gemüt sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich Sohn einer ungebildeten Amöbe in eine Falle gelaufen war. Sie hatten mich gebeten, die Schriften Hrothgars und das Buch der Zeit zu besorgen, damit Locmaar genug Zeit hatte, seine Vorbereitungen für die Beschwörung abzuschließen. Deshalb wollten die Drachenreiter nichts davon gewußt haben, daß in ihrem Herrschaftsbereich ganze Dörfer verschwunden waren. Locmaar war inzwischen bei mir und verneigte sich vor meiner unwürdigen, einem Wurm gleichenden Gestalt.

„Ich danke Dir Meskal, Sohn des Windes, für Deine Hilfsbereitschaft, damit unser Vorhaben zu einem gelungenen Abschluß finden wird.“

Er streckte seine Arme aus und ich gab ihm das Buch. Ich hatte höchstpersönlich dafür Sorge getragen, das die Welt untergehen würde.

„Ich flehe Euch an, Locmaar, laßt diesen Unsinn sein. Ihr werdet die Welt ins Verderben stürzen.“

„Ganz richtig,“ erwiederte er lächelnd, „genau das haben wir vor. Mit Hilfe Kar Achton Gahs werden wir die Götter von dieser Welt vertreiben und dann werden wir sie beherrschen. Du wirst die Ehre haben, der Beschwörung beiwohnen zu dürfen – in zehn Tagen.“ Mit diesen Worten verschwand er im Nichts. Die Drachenreiter gaben mir zu verstehen, daß ich keineswegs frei war, sondern ihr Gefangener und so fristete ich die nächsten zehn Tage meines jämmerlichen Daseins in einem goldenen Käfig in den Tiefen des Berges Osimerad.

Man hatte die Beschwörung für eine Nacht einer großen Konstellation gelegt. Als man mich nach draußen führte, sah ich, daß alles schon vorbereitet war. Auf einem riesigen Feld vor den Toren der Stadt waren tausende von Kerzen entzündet worden. Das Feld war übersät mit okkulten Kreisen, Pentagrammen und magischen Runen aller Art, vorzugsweise der finsteren. Exakt inmitten dieses runden Feldes war ein ebenfalls runder Altar errichtet worden, vor welchem Locmaar nun stand und ekstatisch mit den Armen gestikulierte. Blitze aller Farben zuckten aus seinen Händen und erleuchteten die gesamte Gegend, soweit ich blicken konnte. Offenbar neigte sich die Beschwörung bereits dem Ende. Riesenhafte Rauchschwaden begannen aus der Mitte des Altars emporzu-steigen. Plötzlich war Locmaar verschwunden, nur um wenige Augenblicke später in dreifacher Ausführung dazustehen. Einmal in seiner ursprünglichen Gestalt, einmal als junger Mann von etwa sechzehn Jahren und einmal als Greis. Die Schwaden nahmen langsam Gestalt an: eine grauenhafte Riesenechse mit einer Vielzahl von Köpfen, deren Beschaffenheit reinste Dunkelheit zu sein schien, wie ein Schatten ohne Licht. Es war der dunkle Prinz, Kar Achton Gah. Ein jeder seiner Köpfe verneigte sich vor der geradezu zierlich wirkenden Gestalt Locmaars und dieser erwiderte die Verbeugung. Mir schossen die Worte des Hüters der Zeit durch den Kopf, seine Warnungen, die ich in den Wind geschlagen hatte und sein Versprechen, daß ich unendliches Leid würde erdulden müssen, wenn das Buch nicht zerstört würde. Doch dafür war es nun wohl zu spät – so dachte ich zumindest, doch dann geschah etwas für alle Beteiligten Unvorgesehenes. In alten Legenden der Urmenschen, den Khaz, stand geschrieben, daß die Götter nie die Wege der Menschen gehen dürften, ohne dabei die Welt zu vernichten. Dafür sollte der Schöpfer der Welt selber Sorge getragen haben und zu diesem Zweck habe er eine Kreatur geschaffen, die alle zerstörerischen Kräfte des Feuers und der Leere in sich barg: Alakazar. Nun dachte ich mir, wenn diese Legenden stimmten, dann würde hier gleich einiges an Aufruhr entstehen, wenn Alakazar aus dem Sonnentempel des Schöpfers spränge, um unsere Welt ein wenig zu zerstören. Und richtig – am Horizont, im Osten, zuckte ein gewaltiger Blitz empor, sprang von Mond zu Mond und setzte einen jeden von ihnen in Flammen. Es war herrlich, will sagen, daß man nicht jede Nacht elf brennende Monde zu Gesicht bekommt. Dann erschien an der Stelle, wo der Blitz am Horizont gen Himmel gesprungen war, eine gigantische Gestalt aus Flammen. Wo immer sie auftrat verflüssigte sich die Erde, schmolzen die Berge und verdunsteten die Flüsse. Der Prinz der Dunkelheit erblickte die Kreatur und ließ einen furchterregenden Schrei los, welcher Sterne zu sprengen vermochte, doch die personifizierte Apokalypse, der letzte Zerstörer Alakazar blieb völlig unbeeindruckt. Schritt für Schritt näherte er sich dem dunklen Prinzen, welcher ihm mit haßverzerrten Gesichtern entgegensprang. In den Händen Alakazars erschien ein gewaltiges Schwert aus Flammen, welches er dem Dunklen vor den Kopf schlug, worauf hin dieser sich allzu banal entmaterialisierte. Ich war regelrecht enttäuscht von diesem Gott, alldieweil Locmaar den apokalyptischen Rächer mit Blitzen zudeckte, die für die Zer-störung eines Waldes voller tausendjähriger Eichen ausgereicht hätten. Alakazar zeigte sich dennoch wenig beeindruckt und warf seinerseits eine große Feuerkugel nach Locmaar, welche jenen verbrannte. Die Drachen stoben panisch auseinander, doch keiner entfloh dem Gnadenlosen: einer nach dem anderen ging in Flammen auf, verbrannte einfach. Die Apokalypse kannte keine Gnade und machte keine Ausnahme – bis auf mich. Der Hüter der Zeit sollte Recht behalten haben.

*

Die Welt um mich herum ist ergraut, alles Leben ist kalt, die Zeit steht still. Über die aschenen Felsen, die das einzige sind, was die verbrannten Ebenen unterbricht, weht ein trockener, staubiger Wind. Am Tage brennt die Sonne unbarmherzig hernieder und wenn es etwas gäbe, was sie verbrennen könnte, so würde sie das tun. Des Nachts blickt man in eine unendliche Schwärze, die kein Sternenlicht erhellt. Was mich noch am Leben hält, vermag ich nicht zu sagen. Das einzige, was meinen monotonen Alltag noch unterbricht, ist hin und wieder ein Besuch Alditars, dem Hüter der Zeit. Dann spielen wir Schach und plaudern über meine Fehler und darüber, daß er mich vielleicht doch irgendwann erlösen wird. Er erzählt mir von einer neuen Welt, die der Schöpfer schuf, von ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden zu meiner ehemaligen und ich höre interessiert zu. Er bat mich, die Geschichte meiner Welt niederzuschreiben, als Warnung für die Menschen jener neuen Welt, für den Fall, daß auch ihre Wege eines Tages in die Verirrung führen sollten. 

Und ich – ich stelle fest wie klein die Unendlichkeit ist.

Titelfoto: Džoko Stach, Pixabay


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