Hoheit belieben zu deuten…

Da wollte ich einen ganz charmanten, blitzgescheiten, wortgewandten Artikel über mein ganz persönliches Sommerloch verfassen und dann das…

Warum ich dazu was sagen muss hat einerseits damit zu tun, dass mein Sohn derzeit in einem Zeltlager ähnlicher Provenienz weilt und ich bei dem Gedanken, es hätte auch jenes in Utøya sein können, Schüttelfrost und zittrige Hände bekomme. Andererseits ist es es aber das unfassbar geistlose Gequassel in Medien und Foren, das mir den Kamm schwellen lässt. Ja, ja, ich weiß – auf SPON Kommentare lesen sollte man nur aus anthropologischen Gründen und mit viel Abstand zu den kommentierten Ereignissen, aber manchmal falle ich eben darauf rein. Und da tummeln sie sich, die Waffenfreunde und -feinde, die Religionsapologeten und Atheisten und alle brabbeln sie ein undurchdachtes Durcheinander in den Äther, dass ich mich übergeben möchte.

Die nächsten Wochen werden wir vermutlich Tausende von Stellungnahmen dazu lesen, wie hier ein Wahnsinniger eine Religion gekapert hat, weil diese Tat mit dem Christentum überhaupt nicht zu vereinbaren ist – ein schickes, geschichtsblindes Argument, was man aus dem Lager, welches intuitiv von den Medien als heißer Verdächtiger Nummer Eins erkoren wurde, auch immer wieder hört. Und keiner wird wirklich nachdenken, warum unsere gesamte westliche Gesellschaft sich hier Hirn und Hände schmutzig gemacht hat. Zitat des norwegischen Massenmörders gefällig?

„Deshalb ist es in eurem Interesse, den Brüdern (…) dabei zu helfen, die Kultur-Marxisten und Multikulturisten hier in Europa zu besiegen. Reist hierher, überweist Gelder, gebt eure moralische Unterstützung, werdet selbst zu Märtyrern in diesem Kampf.“

Kultur-Marxisten? Multikulturisten?

Denken wir doch mal einen kurzen Augenblick darüber nach, was diese Begriffen eigentlich bedeuten und inwiefern sie dafür taugen, ein hassverzerrtes, Mordlust induzierendes Feindbild zu kreieren. Nur kurz, damit es nicht allzu sehr schmerzt. Fertig? Gut.

Im Kern sollen beide Begriffe wohl bedeuten, dass man anderen, fremden Kulturen gegenüber respektvoll und offen entgegentreten soll und Verstehen statt Verurteilung praktiziert. Wen dieses Prinzip auf die Palme bringt, der outet sich als Vertreter des Lagers, die den „Gutmenschen“ als Quell allen Übels identifiziert haben. Gutmenschen wollen uns dazu zwingen, vernünftige Dinge zu tun, Multikultis verraten die Ideale und Errungenschaften der abendländischen Kultur, und Kultur-Marxisten? Nun ja, in einem kleinen, zirkulären Kurzschlussgedanken kommt da ja wohl jeder drauf – Kommunisten! Was die gut finden, muss schlecht sein, geht gar nicht anders.

So was kommt dabei raus, wenn wir unsere Ideologien über die Exklusion anderer Meinungen, Sprachen, Bräuche, Hautfarben und Karriereziele definieren. So was kommt dabei heraus, wenn man Volksverhetzern und Brandstiftern wie Sarrazin, Koch, Schäuble und wie sie alle heißen mehr Respekt vor freier Meinungsäußerung entgegenbringt, als einem klaren, nachvollziehbaren Gedanken von jemandem aus einem potentiell feindlich gesonnenem Lager. So was kommt dabei heraus, wenn man das Konzept einer Elite schon im Kindergarten implementieren möchte, obwohl ja nicht einmal gesellschaftlicher Konsens darüber herrscht, was Elite eigentlich ist, und was ihre Aufgaben.

Unsere westliche Welt definiert sich über Exklusion, Niedermachen und Entwertung Anderer. Das einzige, worauf man sich bei uns scheinbar einigen kann, ist der „freie Markt“ als Wirtschaftssystem, was in der Lächerlichkeit seiner tatsächlichen Umsetzung nur noch Fassungslosigkeit hervorrufen kann, und ein ständiger Wettbewerb, weil es eine nicht mal kleine Menge von Menschen zu geben scheint, die sich ständig mit anderen messen wollen, nicht um zu wissen wo sie stehen, sondern um besser (sprich: erfolgreicher) zu sein als andere.

Das Herabschauen auf Andere, ganz gleich ob aus Mitleid, Unverständnis oder einem Gefühl der Überlegenheit, ist eine der fundamentalsten Ursachen für nicht nur diese Gräueltat. Und wie alles andere ist es Ausdruck von Hilflosigkeit in einer Welt, die sich standhaft weigert eine gemeinsame Perspektive für alle Menschen überhaupt nur zu suchen. Das Herunterbeten von Allgemeinplätzen, egal ob sie politisch, religiös oder wie auch immer motiviert sind, hilft schon lange nicht mehr, falls es das jemals getan haben sollte. „Islamische Terroristen neiden uns unsere Freiheit … das Christentum und der Islam sind friedliebende Religionen … wenn die Betreuer auf Utøya bewaffnet gewesen wären, dann wäre das nicht passiert … wir brauchen ein gegliedertes Schulsystem … das wird man ja wohl noch sagen dürfen … Pferde sind Schweine … was können wir denn tun?“

Überlassen wir ruhig den Meinungsmaschinen, Sachzwangapologeten und anderen Deutungsheinis weiter das Ruder. Dann können wir in immer kürzer werdenden Abständen ein bisschen betroffen und fassungslos sein und uns die Welt nach dem guten alten „zwei links, zwei rechts, zwei fallenlassen“ ideologisch einteilen. Aber bloß nicht nachdenken. Um Himmels Willen, bloß nicht nachdenken.


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Kommentare

4 Antworten zu „Hoheit belieben zu deuten…“

  1. […] Sehr großartig, schreibt lao_tse auf mondspiegel: “Hoheit belieben zu deuten…” […]

  2. Carsten

    Fesselnd und anregend wie immer. Danke für den Text, Kai.

  3. […] Sehr großartig, schreibt lao_tse auf mondspiegel: “Hoheit belieben zu deuten…” […]

  4. […] hier in Europa zu besiegen. Reist hierher, überweist Gelder, gebt eure moralische Unterstützung, werdet selbst zu Märtyrern in diesem Kampf.” Anders Breivik hat’s gesagt und gemeint, aber der war ja irre und kein Islamist. Die […]

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