Habe geträumt, dass die Reise per Materietransporter von Oldenburg nach Berlin nur eine halbe Stunde länger dauert als mit dem ICE. Schlimmer noch als beim Fliegen muss man durch irgendwelche Securitychecks, damit man nicht versehentlich oder aus terroristischer Absicht heraus nicht beambares Material wie Antimaterie oder eine Halbliterflasche Bonaqua bei sich führt. Nach dem Beamen muss man in eine Abkühlkammer, wo man mit anderen Reisenden darauf wartet, dass die gestressten Elektronen wieder ihren Standardorbit einnehmen. Ich will mein Fliwatüt.
Der Beginn des zweiten Tages findet nahtlos den Anschluss an die Perturbationen des Vortags. Ich hatte mich für Vorträge zum Thema Jugendkultur, Spiele und #gamification entschieden, weil das so klang, als könnte das interessant sein. War’s aber nicht. Erstens war auch hier Ariadne im Labyrinth des Minotaurus Mutter des Fadenziehens und nicht die rote Zora, zweitens, noch viel schlimmer, schienen die Vortragenden von der Beziehung zwischen ihrem Vortragsthema und der digitalen Gesellschaft erstaunlich wenig zu ahnen. So plätscherte die re:publica bis zum Mittag des zweiten Tages vor sich hin, bevor sie unerwartet an Fahrt und Substanz aufnahm.
Es begann nach dem Essen mit der Keynote, die… äh… war die nicht schon… gestern? Nun gut, Verwirrung gehört zu jeder guten Konferenz dazu und vielleicht war es Masche, die Besucher erst einmal bis zur Frustration einzulullen, bevor man ihnen die Themen mit Relevanz servierte. Mit einer wunderbar süffisanten Scheinnaivität erklärte Gunter Dueck, warum das Internet das Betriebssystem der digitalen Gesellschaft ist und lenkt damit erfolgreich vom eigentlichen Kern seiner Ansprache ab: denn wenn, erstens, das Internet das Betriebssystem ist, also wohl so etwas wie das zentrale, globalgesellschaftliche Nervensystem, dann reden wir von einer Kultur der Kommunikation, der Vernetzung und des Miteinanders, um auf eine gemeinsame Perspektive für uns in unserem Habitat hinzuwirken. Das wirft aber, zweitens, die Frage auf, welches Betriebssystem damit abgelöst wird und ob, drittens, ein einfaches Update oder aber zumindest ein Upgrade möglich sein wird. Das sind essentielle Fragen, die Dueck ungestellt lässt, und das aus gutem Grund. Das derzeitige System betrachtet unser globales Beisammensein nicht als kreative Kommunikationsumgebung, in der wir uns unser Habitat zurechtstricken, dass es für die meisten passt, sondern als gigantischen Bazar, auf dem sich zum Amüsement Weniger virtuelle Geldströme schneller transferieren lassen als die Transferinitiatoren denken können, was dann ja auch einen signifikanten Anteil an den derzeitigen Problemen hat. Wer an dieser Steller reflexartig Kapitalismus oder soziale Marktwirtschaft denkt, verrät damit lediglich, ob er lieber SPD oder CDU wählt und dass er das Kernproblem nicht begriffen hat.
Was Dueck sehr wohl weiß ist, dass die digitale Gesellschaft und insbesondere die digital Natives eine vollkommen veränderte Form der Kommunikation zelebrieren, an deren Wirkungsweise und -weite sich die graue Eminenz der alten Welt zu weit über 90% konzeptionell die Zähne ausbeißt. Die Veränderungen sind dabei so tiefschürfend, dass die alten Beschreibungen, wie Kommunikation angeblich zu funktionieren hat, als weltfremdes Wunschkonzert entlarvt werden konnten. Kommunikation auf der Ebene von Vielen zu Vielen, ohne hierarchische Steuerknoten, ist keineswegs oberflächlicher oder häufiger mit Missverständnissen behaftet, sondern die Voraussetzung für intelligente Netzwerke, deren Dynamik so manche Forschungskampagne gigantischer Wirtschaftskonglomerate aufgrund akuter Innovationsarmut der Lächerlichkeit preisgibt. Wer das nicht glauben will war offensichtlich niemals Zeuge eines memetischen Urknalls, der sich derart schnell viral um den Globus katapultiert, dass selbst dem digitalen Buchgeld schwindelig wird. Als Beispiel sei hier die Ushahidi-Plattform angeführt, die Patrick Meier am dritten Tag in einem deutlich ernsteren Track anführte, oder aber auch die Beispiele aus Jaclyn Friedmans Vortrag, warum digitaler feministischer Aktivismus wie die Klitoris ist – ein Vortrag, der keineswegs so plump war, wie der provokative Titel befürchten ließ.
Zu erkennen war an Tag 2 und 3 der re:publica XI, dass sich im zentralen Nervensystem der Zukunft bereits Lösungen zu Problemen gefunden haben, die die alte Welt noch nicht als problematisch identifiziert hat. Und hier schließt sich bizarrerweise der Kreis zur Keynote vom Montagmorgen, deren Motto Philipp Schäfer mit diesem Zitat von Albert Einstein untermauerte: “Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.”
Dies ist genau der Punkt, an dem Gunter Dueck anknüpft, wenn er sagt, dass die neue Klasse der Professionals die Willensbildung übernehmen muss. Dass wir gewaltige Probleme auf diesem Planeten haben, dürfte den meisten Mitmenschen aufgefallen sein. Dass Politik und Wirtschaft in ihrer jetzigen Organisationsform diese Probleme lösen können, erwarten neben den Medienfröschlein immer noch erstaunlich viele Bürger, obwohl ihr Bauchgefühl ihnen etwas anderes suggeriert. Und so geht es auf der re:publica eben nicht um die Zukunft des Internets, oder ob man vom Bloggen leben kann – es geht um die Zukunft der Menschheit und ihrer Heimat – nicht mehr und nicht weniger.
Autor von „Willkommen im Meer“ und „Krumme Dinger“, Netzmensch und Familienvater aus Oldenburg. Douglas-Adams-Fan. Nach einem schweren Schlaganfall im Mai 2015 Aphasiker auf dem Weg der Besserung.
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